„Die Krebserkrankung hat mir ein ganz wertvolles und wichtiges Jahr gestohlen“
Interview mit Influencer Alexander Böhmer
Alexander Böhmer ist gerade mal 20 Jahre alt, als er die Diagnose Knochenkrebs erhält. Danach kommen zwölf Monate Chemotherapie und viele Operationen auf ihn zu. Infolge der Erkrankung musste zudem sein rechtes Bein amputiert werden. Unter dem Profilnamen @alex.boeh lässt er hunderttausende Follower auf Instagram und TikTok an seinem Leben nach dem Krebs teilhaben. Damit gibt er jungen Menschen mit Krebs Mut und zeigt ihnen, dass sie nicht allein sind. In einem Interview erzählt er uns von den Herausforderungen für Betroffene und Angehörige im Umgang mit dem Thema Krebs und der Rolle der sozialen Medien.
Du hast tausende Follower auf Instagram und TikTok, die du an deinem Alltag nach dem Krebs teilhaben lässt. Welche Rolle spielen die sozialen Medien bei dir?
Soziale Medien spielen in meinem Leben eine sehr große Rolle und das tatsächlich erst seit der Krebsdiagnose. Ich habe das für mich entdeckt, weil ich andere Betroffene in meinem Alter gesucht und gemerkt habe, ich finde niemanden. Im Krankenhaus, auf der Station und in meinem Umfeld auch nicht. Dann habe ich Instagram heruntergeladen und bin da auf eine große Krebscommunity gestoßen. Irgendwann habe ich mir gedacht: Auf Instagram wird alles geteilt – jedes Essen, jeder Spaziergang mit dem Hund und jede Sport-Session, während es bei mir überhaupt nicht gut läuft und ich nicht darüber spreche. Ich habe mich gefragt, warum das so ist, und dachte mir dann: Ich ändere das jetzt und werde einfach posten, dass bei mir gerade alles schiefläuft. So bin ich erst dazu gekommen.
Irgendwann habe ich zu meiner Mutter gesagt, dass Instagram ein Fenster zur Welt geworden ist in dieser schlimmen Zeit, in der ich so viel im Krankenhaus lag, und sehr viel allein war. Ich lag weit weg von zu Hause im Krankenhaus und habe meine Freunde selten gesehen. Meine Familie war schon fast immer da, aber eben immer nur eine Person. Dann habe ich gedacht, ich nutze jetzt einfach mein Handy, um in die Welt hinauszuposaunen, wie es mir geht und dann kann es jeder angucken, der es wissen will. Plötzlich haben fremde Menschen daran Anteil genommen. Dadurch ist dann diese coole Plattform entstanden zum Austauschen und einander Mut machen und das ist echt etwas Tolles!
Ich verdanke den sozialen Medien ganz viel. Ich habe da Menschen kennengelernt, Freunde gefunden und mir wurde Mut gemacht. Dadurch habe ich eine besondere Verbindung zu Instagram.
Für deine Eltern und Freund:innen war der Umgang mit deiner Krebsdiagnose sicherlich sehr schwer. Was hat ihnen geholfen, besser mit der Situation umzugehen?
Ich glaube, mein offener Umgang mit der Situation hat ihnen geholfen. Ich habe ganz oft und offen gesagt, dass ich Angst davor habe, das nicht zu überleben. Wenn ich Sorgen oder Probleme hatte, dann habe ich das angesprochen. Und ich glaube, das ist im ersten Moment immer schwierig, weil niemand sowas aussprechen möchte. Aber im Prinzip ist das total wichtig für die ganze Familie, dass jeder offen sagen kann: Ich habe Angst davor, dass du vielleicht nicht wieder gesund wirst oder das nicht überlebst. Wir müssen lernen, offen miteinander umzugehen und über Ängste zu sprechen. Das ist zwar schwierig, aber es ist machbar und das macht es auch für alle leichter.
Hattest du auch das Gefühl, dass es Leute gibt, die eine gewisse Hemmschwelle hatten oder Angst, dir gegenüber was Falsches zu sagen? Wenn ja, wie habt ihr dieses gelöst?
Das Gefühl hatte ich sehr oft, dass Menschen sich zurückziehen und lieber gar nichts sagen, als etwas Falsches zu sagen. Das war aber genau das Falsche. Auch heute trifft mich das immer noch sehr, wenn ich das merke. Ich finde, man kann nichts Falsches sagen, aber man kann etwas Falsches machen – und das ist nämlich, nichts zu sagen. Ich bin auch überfordert, wenn mir jemand von seiner Krebsdiagnose erzählt. Dann stehe ich auch erstmal da und frage mich, was ich jetzt sagen soll. Das kann man doch zugeben. Aber es ist eine Schande, sich zurückzuziehen und seine Freunde oder Familie im Stich zu lassen, weil man sich unwohl fühlt in der Situation.
Kinder haben das Problem nicht, Kinder fragen einfach, warum du eine Glatze hast. Dann erkläre ich, dass ich eine schlimme Krankheit habe und mir von den Medikamenten die Haare ausfallen. Kinder haben gar nicht diese Sorge davor, dass sie dich verletzen können und deswegen finde ich es so erfrischend und schön, mit Kindern zu sprechen. Ganz viele Erwachsene können von dem offenen und hemmungslosen Umgang mit solchen Sachen lernen. So sehe ich es zumindest, aber das ist auch sehr individuell.
Ich finde, man kann nichts Falsches sagen, aber man kann etwas Falsches machen – und das ist nämlich, nichts zu sagen.
Das frühe Erwachsenenalter ist für viele sehr aufregend, da sich oft viele Dinge in kurzer Zeit verändern. Wie hat der Krebs diese Zeit für dich beeinflusst?
Natürlich sehr stark. Ich hatte zwölf Monate Chemotherapie und Operationen. Mir ist ein Jahr gestohlen worden. Das ist mir besonders aufgefallen, als ich drei Monate nachdem ich krebsfrei war, auf einem Geburtstag eingeladen war. Da hat mich jemand gefragt, wie alt ich bin. Und dann habe ich gesagt: „Ich weiß es nicht. Ich bin entweder 21 oder 22 oder 23, ich weiß es nicht.“ Ich wusste nicht, wie alt ich bin, weil mir dieses komplette Jahr fehlte. Ich musste wirklich rechnen. Die Krebserkrankung hat mir ein ganz wertvolles und wichtiges Jahr gestohlen. Wenn du so krank bist, fängst du an, dir die großen Fragen des Lebens zu stellen.
Meine Freunde, die ein bisschen älter waren, haben darüber geredet auszuziehen und ich habe mich gefragt: Werde ich jemals in meinem Leben überhaupt nochmal in den Urlaub fahren? Werde ich jemals ausziehen können? Denn ich habe nur ein Bein und ich weiß nicht, ob ich in der Lage sein werde, meinen Haushalt zu führen. Man fragt sich plötzlich ganz große Sachen. Und das sollte mit Anfang 20 natürlich nicht der Fall sein. Da sollte man gucken, welche Wohnung ich mir von meinem Ausbildungsgehalt mieten kann, um eine coole Zeit zu haben. Das war natürlich belastend. Das hat mir eine ganze Menge jugendlicher Leichtigkeit genommen, die man eigentlich hat.
Hattest du das Gefühl, dass deine Beschwerden vor der Krebsdiagnose weniger ernst genommen wurden aufgrund deines jungen Alters?
Ab dem Moment der Diagnose wurde ich sehr ernst genommen. Wenn ich nur Kopfschmerzen hatte, habe ich das Kopf-MRT bekommen. Aber bis zu dem Moment, in dem man wusste, was es ist, war es ein Marathon. Ich saß bei Ärzten, die mich nach Hause geschickt haben mit den Worten, ich wäre ein Lügner und hätte nur keine Lust, zu arbeiten, weil ich über Schmerzen im Knie geklagt habe. Zehn Wochen später kommt raus: Da ist ein faustgroßer Tumor im Bein. Und es war wirklich ein Kampf, einen Termin oder eine Überweisung zu bekommen. Die Ärzte haben mir oft nicht geglaubt und das, obwohl ich mich nie im Leben einfach so aus Spaß krankmelden würde.
Auf deinen Social-Media-Kanälen strahlst du sehr viel Lebensmut aus. Wer oder was gibt dir Kraft?
Meine Mutter sagt immer, ich war schon immer sehr positiv und das habe ich auch so im Gedächtnis. Aber ich habe auch in der Reha ganz viele Jugendliche in meinem Alter kennengelernt. Wir waren in Gruppen von zehn bis zwölf Leuten – davon sind vier mittlerweile gestorben. Also warum sollte ich nicht voller Freude jeden Tag aufstehen und glücklich und dankbar dafür sein, dass ich so ein riesiges Glück hatte und wieder gesund geworden bin?
Die Zeit der Erkrankung war schrecklich und ich könnte schreien und wütend sein, weil mir das passiert ist, aber es ist so und ich kann es nicht ändern. Wenn ich jetzt traurig bin, dann geht die Chemo nicht schneller vorbei, ich kann nicht besser laufen, ich habe nicht weniger Schmerzen. Also kann ich das Ganze auch so positiv und fröhlich wie möglich hinter mich bringen und es für mich und meine Angehörigen erträglicher machen. Das war ganz oft ein Ansporn.
Meine Mutter saß den ganzen Tag neben mir am Krankenbett und stand sozusagen Wache. Ich dachte, wenn sie schon den ganzen Tag hier mit mir sitzen muss, da können wir wenigstens zusammen lachen und machen uns die Zeit so schön wie möglich. Das trägt ein großes Stück dazu bei, wie man diese Zeit erlebt. Ich hatte Schmerzen und Übelkeit, ich habe mich viel übergeben und mir sind die Haare ausgefallen. Es war wirklich schrecklich und ich will es nicht kleinreden, aber wenn man geweint hat über die ganzen Sachen, kann man auch wieder Späße machen und lustig sein. Dann kommt man schneller voran – und vor allem glücklicher.
Was sollten Angehörige und Freund:innen wissen?
Ich finde es sehr wichtig zu erwähnen – und das fehlt mir ganz oft –, dass Angehörige auch das Anrecht auf Hilfe bei einem Psychoonkologen haben. Das bedeutet, wenn ich jetzt Mutter oder Tochter oder Bruder bin von einem Krebspatienten, kann ich zu meiner Hausärztin sagen, dass ich Redebedarf habe und gerne psychologische Unterstützung hätte. Dann bekomme ich das auf Rezept. Die Angebote, die zum größten Teil auf Krebspatienten ausgelegt sind, gelten auch ganz oft für Angehörige. Und das ist kein Zeichen von Schwäche, zur Therapie zu gehen, sondern ein Zeichen von Selbstreflektion und Stärke. Man möchte für seinen Angehörigen da sein. Das kann man aber nur, wenn man selber kraftvoll und stabil ist. Deshalb ist es klasse, wenn man das in Anspruch nimmt.
Was war die größte Herausforderung, wieder schrittweise in einen „normaleren“ Alltag nach dem Krebs zurückzufinden? Was hat dir in dem Prozess am meisten geholfen?
Eine der größeren Herausforderungen für mich war es, dass ich sehr viel Druck von außen bekommen habe. Ich kann mich daran erinnern, dass Bekannte von meinen Eltern zu mir gesagt haben: „Gib einfach mal Gas, dass du wieder arbeiten gehen kannst.“ Da hatte ich sogar noch zwei oder drei Chemos und wochenlang Therapie vor mir, ich hatte an dem Tag aber zufälligerweise Haare und eben meine Prothese. Ich habe mich gefragt, wie man sowas sagen kann. Natürlich habe ich mich nicht gewehrt und nichts dazu gesagt. Da war es eben meine Mutter, die immer wieder gesagt hat: „Du warst sehr lange krank und du musst deinem Körper Zeit geben.“
Es ist wichtig, dass man sich eingesteht, dass man sehr krank war, und dass man sich selbst die Zeit nimmt, wieder gesund zu werden. Natürlich muss man sich das leider auch leisten können, aber wenn ich zwölf Monate im Krankenhaus lag und Chemo bekommen habe, kann ich nicht erwarten, dass es mir nach drei oder vier Monaten wieder so geht wie vorher. Das muss man einfach akzeptieren und sich und seinem Körper die Zeit geben, gesund zu werden – nicht nur körperlich, sondern auch mental.
Was würdest du Betroffenen gerne mitgeben?
Ganz kurz und knapp: Sprecht offen miteinander über eure Gefühle, Sorgen und Ängste und haltet zusammen.
Instagram: https://www.instagram.com/alex.boeh/